Von Mauern und Brücken

In meinem Elternhaus hing eine Postkarte an der Pinnwand. Auf ihr war eine Ziegelmauer abgebildet, auf der mit krakeliger Kinderhandschrift geschrieben stand:
Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.
(Psalm 18,30)
Mein Vater hatte sie vor einer schweren Herz-OP von einem Krankenhausseelsorger geschenkt bekommen. Nach seiner Genesung fand diese Karte einen Platz in seinem Alltag und erinnerte ihn bei jedem Blick auf die Karte an den Trost, den er in einer schwierigen Zeit erfahren hat. Nichts ist so groß, so bedrückend, so ungewiss, als dass ich es nicht mit Gott an meiner Seite bestehen kann.
Wie oft ergeht es uns so, dass wir gefühlt vor einer unüberwindbaren Mauer stehen. Kein Schritt scheint möglich. Wir haben keine Ahnung, was sich hinter dieser Mauer verbirgt. Eine Mauer, die unseren Blick versperrt. Eine Mauer, die uns ausgrenzt.
Manchmal macht uns eine solche Mauer Angst, manchmal erweckt sie aber auch Neugierde in uns. Wie es wohl dahinter aussieht? Manchmal entfacht die Existenz einer Mauer das Verlangen, vom Leben hinter der Mauer zu erfahren.
Oft sind es ja nicht reale Mauern, die uns wie ein Hindernis vorkommen, sondern die Mauern, die in den Köpfen der Menschen existieren, gebaut aus Steinen unserer Angst. Woher bekommen wir Kraft, Mauern zu überwinden, sie einzureißen oder wenigstens mit einem Durchlass zu versehen? Wie stillen wir unsere Sehnsucht nach dem Leben auf der anderen Seite der Mauer?
Isaac Newton (1643 – 1727) hat einmal gesagt: „Die Menschen bauen zu viele Mauern und zu wenig Brücken.“ Ich weiß nicht, ob dieser Allroundwissenschaftler aus der Barockzeit damit auch diejenigen Brücken gemeint hat, die sinnbildlich für das Überwinden von Tälern und Hindernissen zwischen Menschen stehen. Brücken, die Verbindungen schaffen zwischen Gedanken und Kulturen, zwischen Generationen und Religionen. Brücken, die Menschen ermöglichen, in Kontakt zu treten, sich auf kurzem Weg auszutauschen und um Werte zu ringen, mit denen ein Zusammenleben aller möglich ist. Solche gedanklichen Brücken sollten wir wahrlich öfter bauen als unüberwindliche Mauern.
Ich denke, mit unserem Gott können wir nicht nur wie der Psalmbeter bekennt, über Mauern springen, sondern Gott gibt uns auch den Mut und die Kraft zum Brückenbauen, um anderen Menschen zu begegnen, sie kennenzulernen, sie bei uns willkommen zu heißen.
Wie aktuell ist doch immer noch das Lied „Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen“ von Kurt Rommel aus dem Jahr 1963, das auch in unserem Gesangbuch steht. Wir sollten es viel öfter singen – und vor allem danach handeln.
Pastorin Annegret Austen
gib mir den Mut zum ersten Schritt.
Lass mich auf deine Brücken trauen,
und wenn ich gehe, geh du mit.
Ich möchte gerne Brücken bauen,
wo alle tiefe Gräben sehn.
Ich möchte hinter Zäune schauen
und über hohe Mauern gehn.
Ich möchte gern dort Hände reichen,
wo jemand harte Fäuste ballt.
Ich suche unablässig Zeichen
des Friedens zwischen Jung und Alt.
Ich möchte nicht zum Mond gelangen,
jedoch zu meines Feindes Tür.
Ich möchte keinen Streit anfangen,
ob Friede wird, das liegt bei mir.
Text: Kurt Rommel
Gemeindebrief Nr. 3 - 2025 | September 2025 bis November 2025